Reallabore für Wissenschaft und Gesellschaft

Wie kann die Wissenschaft über Problemanalyse und eine Beratungsfunktion für die Politik hinausgehen und enger mit der Gesellschaft zusammenarbeiten? Das Konzept der Reallabore erm?glicht in konkreten gesellschaftlichen Kontexten zu Probleml?sungen beizutragen.

Gesellschaft
Reallabore unterstützen den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, um Probleml?sungen in einem konkreten Kontext anzugehen. (Illustration: xedos4 / freedigitalphotos)

Auch im Zukunftsblog beschr?nkt sich die Wissenschaft oft auf die Problemanalyse und das Ziehen von Schlussfolgerungen für die Politik. Vor dem Hintergrund der grossen globalen Herausforderungen, zum Beispiel dem Umbau der Energiesysteme und dessen Umsetzung durch die Gesellschaft, müssen wir uns fragen, ob Analysieren und Beraten genügt. Sollten wir nicht mehr tun? Und wie k?nnen wir mehr tun? Gefragt sind konkrete gesellschaftliche Experimente, die testen, ob vorgeschlagene Massnahmen auch realisierbar sind und sich bew?hren. Beispiele in diese Richtung sind sicherlich Zernez Energia 2020 [1] oder die geplanten Projekte zur Tiefengeothermie [2].

Reallabore zur Verst?rkung der Zusammenarbeit

Auch in Deutschland wird lebhaft diskutiert, welche Beitr?ge die Wissenschaft zur ?grossen Transformation? leisten kann [3]. Ein Expertenbericht [4] hat dem Land Baden-Württemberg empfohlen, sogenannte Reallabore einzurichten, in denen die Wissenschaft in enger Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Experimente definiert, diese umsetzen hilft und auch beforscht. Dies geht natürlich nur, wenn die Direktbetroffenen sowie Entscheidungstr?ger von Beginn weg und über den gesamten Projektverlauf einbezogen werden und auch mitentscheiden k?nnen, was ausprobiert, getestet und experimentiert wird. Wissenschaftliche Analyse und gesellschaftliches Handeln sollen so eng aufeinander abgestimmt bleiben.

Anfang Oktober hat das Land Baden-Württemberg sieben Reallabore [5] mit einer Gesamtprojektsumme von 6 Millionen Euro bewilligt. Die Themen haben dabei eine grosse Bandbreite – Mobilit?t, Stadtentwicklung, Nationalpark, Textilwirtschaft – was zeigt dass die Idee auf breites Interesse gestossen ist. Verschiedene gesellschaftliche Akteure aus Politik, Verwaltung, Industrie und Zivilgesellschaft haben aktiv zu den Projekteingaben beigetragen. Erm?glicht wurde dies durch ein zweistufiges Verfahren: Die in der ersten Runde erfolgreichen Forschungsgruppen erhielten finanzielle Unterstützung, um in Workshops mit gesellschaftlichen Akteuren zusammen die Projekte auszugestalten. Spannend ist zu sehen, dass sich sowohl Exzellenz-Universit?ten wie auch Fachhochschulen beworben haben.

Praxisnahes Lernen

Vergr?sserte Ansicht: Urnäsch
Ein Schweizer Reallabor war zum Beispiel die Gemeinde Urn?sch, wo mehrere Fallstudien von ETH-Studierenden bearbeitet wurden. (Foto: ponte1112 / flickr CC BY-NC-SA 2.0)

Ein grosses Potenzial stellen diese Reallabore auch für die Ausbildung von Studierenden dar, da sie forschendes Lernen im realen, gesellschaftlichen Kontext erlauben. Dies erfordert, dass die Studierenden Verantwortung übernehmen und fortlaufend kritisch reflektieren, unter anderem zur eigenen Rolle wie auch den M?glichkeiten und Grenzen wissenschaftlichen Arbeitens. Dadurch lernen sie nicht nur kritisches Denken, sondern wenden es auch direkt praktisch an. An der ETH organisieren wir seit zwanzig Jahren ?hnliche Projekte unter dem Namen ?transdisziplin?re Fallstudien? im Department Umweltsystemwissenschaften [6]. Ein Reallabor bildete dabei die Gemeinde Urn?sch, wo wir mehrere Fallstudien zu Themen der Landschaftsentwicklung, der Zukunft von Milch-, S?gerei und Textilwirtschaft sowie zu lokalen Energieversorgung durchführten. So haben wir zusammen mit der Gemeinde Urn?sch eine Methode zur Entwicklung von Energiestrategien erarbeitet. Dies hat die Bev?lkerung für das Thema Energie sensibilisiert und verschiedene Diskussionen zum Thema angestossen. Urn?sch hat sich damit gezielt für das Label ?Energiestadt? vorbereitet und dieses inzwischen auch erhalten.

Reallabore w?ren sicher auch in der Schweiz m?glich, zum Beispiel im Rahmen der Nationalen Forschungsprogramme, um einen gr?sseren Beitrag der Wissenschaft zur L?sung aktueller gesellschaftlicher Probleme zu leisten. Die ETH mit ihren Kompetenzen sowohl in den Ingenieur-, Natur- wie Sozialwissenschaften ist dabei perfekt aufgestellt, um entsprechende Projekte zu entwickeln und durchzuführen. Gefragt sind dazu nicht alleine technologische Innovationen sondern auch soziale an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft.

Weiterführende Informationen

[1] Blogbeitrag von Prof. Arno Schlüter:  Zernez Energia 2020 – Transformation eines Bergdorfes

[2] Blogbeitrag von Prof. Stefan Wiemer: Geothermie-Projekt St. Gallen: Was bleibt?

[3] Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden Württemberg, 2013: externe SeiteWissenschaft für Nachhaltigkeit - Herausforderung und Chance für das baden-württembergische Wissenschaftssystem.

[4] Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltver?nderungen der Bundesregierung, 2011: externe SeiteWelt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Gro?e Transformation. (Zusammenfassung für Entscheidungstr?ger)

[5] externe Seite?bersicht der gef?rderten Reallabore der Hochschulen in Baden-Württemberg

[6] Liste vergangener Fallstudien und ihrer Resultate vom Transdisziplinarit?tslabor

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